FÜHL DICH MAL

In letzter Zeit hatte ich wieder Kontakt mit Menschen, die in tiefen Krisen steckten. Menschen, die sich in ihrem eigenen Leben verfangen hatten und Mühe haben, wieder herauszukommen. Da ist der Reflex, sie schütteln zu wollen. Einfach zu sagen: Da gibt es doch noch was. Was natürlich anmaßend ist. Trauer und Wut, die sich über die Jahre in eine Art tiefe Krise verwandelt haben – wie ein großer Sack, den man sich über den Kopf gezogen hat, kann man eben nicht einfach so abschütteln. Genauso wenig wie die beklemmenden Verhältnisse, Demütigungen, der ganze Mist. Immer knapp an der Armut vorbei oder kurz davorzustehen, kann mich nicht leicht über den Asphalt gleiten lassen.

Auch wenn es nichts gibt, was ich gerade an der Situation ändern kann, versuche ich manchmal das zu geben:

Ich habe eine Beziehung zu meiner Matte aufgebaut. Oft zwinge ich mich, sie auszurollen, mich daraufzulegen – und plötzlich merke ich, wie Spannung abfällt. Manchmal werde ich dabei sogar emotional, lege Musik auf und dann wird aus einer Routine plötzlich ein Erlebnis.

Gerade wenn wir älter werden, verlernen wir, direkt auszusprechen, was wir empfinden. In einem Leben, das von der Angst geprägt ist, ja keinen falschen Move zu machen, wäre es ja auch eine Zumutung, den kleinen Stichen mal wirklich lautstark etwas entgegenzusetzen. Mit Achtsamkeit wird umgegangen wie mit einer Technik, die sich nahtlos in unsere Selbstverwertungsmarktlogik einfügt. Eine weitere Leistung. Und wenn du das nicht schaffst, Pech.

Wenn Patanjali in den Yoga Sutras gleich in den ersten Versen davon spricht, dass das Sehende in sich selbst ruht, wenn alle Aktivitäten aufhören, dann ist das der vollständige Entzug aus dieser Logik. Von diesem Standpunkt gehen wir aus dieser Welt mit nichts und bilden uns nur ein, etwas zu besitzen. Dass einige aus Gier diese Welt ausbeuten, liegt an ihrer Illusion, unsterblich sein zu wollen. Alles rausziehen aus diesem Leben, über Leichen gehen, keine Skrupel.

Fühl das mal intensiv, nicht irgendein System, sondern Gier, Empathielosigkeit, Verachtung.

Fühl dich mal. Einfach alles ausschalten und für dich sein, nicht verfangen in diesen lähmenden Selbstvorwürfen oder diesem bedrängten Gefühl, ausgeliefert zu sein. Es wird der Tag kommen, wenn auch die Tyrannen nackt in ihre Särge gelegt werden und alles zurücklassen müssen. Das ist vielleicht keine Genugtuung und lädt die Priviligierten nicht zu Passivität ein, aber manchmal ist das vielleicht entlastend. Und wenn du dann auf der Matte mal für dich sein konntest, dann atmest du zum Schluss leise ein Fuck the system auf der Matte in Shavasana aus – und die Welt kann dich.

Fühl das mal.