Heute ist ein kalter, verregneter Dezembertag. Ich sitze hier, schreibe an meinem Laptop – und könnte genauso gut etwas anderes tun. Die Weihnachtsmärkte haben geöffnet, ein netter Film läuft im Kino, vielleicht könnte ich essen gehen oder mich für eine der 35.000 anderen Optionen entscheiden, die das Internet mir bietet. Möglichkeiten gibt es viele.
Du kennst vermutlich das Phänomen FOMO – die Angst, etwas zu verpassen. Aber ist es nicht auch die Angst, für einen Moment nicht abgelenkt zu sein? Denn mit dem Dabeisein bei irgendetwas schaffen wir auch die ideale Gelegenheit, uns nicht mit uns selbst auseinanderzusetzen.
Studien belegen, dass das Gefühl, etwas zu verpassen, ernste Folgen für unsere mentale Gesundheit hat. Ständiger Vergleich mit anderen und die Sorge, außen vor zu sein, können zu Angstzuständen und geistiger Erschöpfung führen. Wenn ich ständig das Gefühl habe, etwas zu verpassen, fühle ich mich unwohl in meiner Haut. FOMO verstärkt das Gefühl der Unsicherheit, weil wir logischerweise annehmen, dass die anderen ein besseres Leben haben. Es ist der soziale Vergleich, der uns in den Strudel zieht und uns nicht nur unsicher, sondern auch unzufrieden macht. Und es führt zu Depressionen, Einsamkeit und Suchtverhalten, besonders in Bezug auf soziale Medien. Schlafstörungen, verminderte Konzentration, weniger Produktivität – dieses ständige „Up-to-date“-Sein macht uns krank.
Wir haben also ein gewaltiges ein Problem: Jedes Mal, wenn wir über das Gefühl nachdenken, etwas zu verpassen, bringen wir uns in einen inneren Minuszustand. Die bloße Wahrnehmung, dass da draußen etwas ist, das wir haben sollten, setzt uns unter Druck und macht uns unzufrieden. In der Bhagavad Gita war das Problem anscheinend schon vor tausenden von Jahren bekannt. Hier gibt es einen klaren Ratschlag, der sicherlich für unser modernes Zeitalter eine Gültigkeit haben könnte
„Jemand, dessen Glück im Innern liegt, der im Innern tätig ist und im Innern Freude erfährt und dessen Ziel im Innern liegt, ist wahrhaft der vollkommene Mystiker. Er ist im Höchsten befreit, und letztlich erreicht er den Höchsten.“ (5.24)
Der Mystiker also (oder der nach Mystik bzw. innere Wahrheit strebende Mensch), der in sich selbst vollkommen ist, ist nicht mehr von der Angst getrieben, etwas zu verpassen, weil er in sich selbst bereits alles gefunden hat. Er lebt in Einklang mit seinem Inneren und ist von äußeren Reizen nicht abhängig.
Ich selbst kenne das Gefühl, immer dabei sein zu müssen. Vielleicht 500, vielleicht 600 Konzerte habe ich gespielt, noch mehr habe ich mir angesehen – und das war lange Zeit mein Prinzip. Ich wollte einfach dabei sein, wollte die Bands sehen, die gerade in Europa auf Tour waren. Ich bin sogar dankbar, einige dieser Konzerte damals für ein paar Mark erlebt zu haben. Aber heute ist das anders. Ich habe keinen Drang mehr, jedes Konzert mitzunehmen, jedes Event zu erleben. Ich fühle mich eher oft unwohl in großen Menschenmengen und versuche, mich auf Dinge zu konzentrieren, die mir innerlich gut tun – wie jetzt, hier zu sitzen, allein mit meinem Laptop in einem gemütlich hergerichteten Raum am Schreiben dieses Textes.
Es geht mir nicht darum, ein Idealbild des vollkommenen Menschen zu schaffen. Ich weiß selbst, was es heißt, „dabei sein“ zu wollen. Aber ich frage mich: Was bleibt, wenn wir uns nicht mehr von der Angst treiben lassen, etwas zu verpassen? Was bleibt, wenn wir das Leben aus einer anderen Perspektive betrachten, als nur aus der Angst heraus, es könnte uns etwas entgehen?
Vielleicht hängt FOMO nämlich mit einer tiefen Angst zusammen – der Angst vor dem Unbekannten, dem Ungewissen, was nach diesem Leben kommt. Wir wollen so viel wie möglich aus diesem Leben herausholen, weil wir nicht wissen, was uns erwartet, wenn es vorbei ist. Und diese Rastlosigkeit führt uns immer weiter von uns selbst weg.
Deshalb lade ich dich ein, für eine Zeit lang bewusst zu verzichten. Beobachte dich dabei selbst, ohne dich zu verurteilen. Sieh, wie du reagierst, wenn du dem Drang, etwas zu erleben, nicht nachgibst. Vielleicht erkennst du, dass dieser Drang von einer inneren Unruhe kommt.
In der Bhagavad Gita wird immer wieder beschrieben, dass unser Handeln ein Ziel haben sollte – den Weg nach innen durch selbstlose Hingabe und Loslösung von dem permanenten Zwang, uns behaupten und etwas besonderes ein zu müssen. Unsere Transformation soll immer ein inneres Ziel haben.
Das Leben ist keine Zitrone, die wir bis zum letzten Tropfen auspressen müssen. Dieses Bild unterliegt einem fatalen Verständnis, einem kalten, herzlosen ohne jeglichen tieferen Sinn geprägten Kampf ums Überleben bei welchem es ausser diese Existenz nichts gibt, wir nicht mehr sind als geistlose, von Instinkten getriebene psychologische Reiz-Reaktionsmaschinen. Der Drang, alles erleben zu wollen, ja erleben zu müssen, führt im Ergebnis zu Menschen, die an diesem Druck verzweifeln, kaputtgehen und letztlich nicht mehr mithalten können. Und allein das sollte uns nachdenklich machen – ist das wirklich das Leben, das wir leben und vielleicht sogar anderen vorleben wollen?