Du kennst das Gefühl: Du kommst aus der verregneten Berliner Großstadt, aus den S- und U-Bahnen, wo die Leute nur noch grimmig schauen, fast schon aggressiv auf ein Lächeln reagieren oder einfach nur stur auf ihr Handy glotzen. Du betrittst den Raum, öffnest die Tür – da ist der Geruch, da sind die Menschen, vielleicht ein bisschen Musik – und plötzlich bist du in eine Welt eingetaucht, die ganz anders ist: freundlich, fast schon selig. Etwas, das du vermisst hast. Du fühlst dich wohl.
Plötzlich gibt es Menschen, die sich für dich interessieren, die aufmerksam zuhören, die den Blick nicht abwenden. Erst später fällt dir auf, dass der Blick sehr fixiert auf dich gerichtet war – fast schon etwas unangenehm. Aber das nimmst du in dem Moment nicht wahr. Und plötzlich löst sich der Knoten in dir, du zeigst dich. Vielleicht fängst du an zu weinen. Plötzlich bist du verletzlich – und du fühlst dich wohl. Du hast das Gefühl, gesehen zu werden.
Das kann ein Szenario sein, in dem Lovebombing praktiziert wird. Und sich das einzugestehen, dass das passiert ist, kann umso schmerzhafter sein.
Lovebombing ist Teil einer manipulativen Strategie. Denn wer mit Liebe bombardiert, meint es selten gut. Liebe ist keine Waffe, die eingesetzt werden kann, sondern ein Geschenk, das freiwillig und ohne Selbstzweck gegeben wird.
Gerade als jugendlicher, fünfzehnjähriger, äußerst sensibler Mensch, der mit großen inneren Konflikten zu kämpfen hatte, war ich dankbar, wenn Menschen sich plötzlich die Zeit nahmen, mir zuzuhören. An dieser Stelle will ich nicht pessimistisch klingen und jedes Gespräch, das ich im Rahmen meiner eigenen Suche erlebt habe, als prinzipiell manipulativ darstellen. Keinesfalls – nicht, dass wir uns hier falsch verstehen. Aber auch ich habe so etwas wie eine übertriebene Aufmerksamkeit erlebt.
Lovebombing ist eine manipulative Strategie, bei der Menschen mit Liebe überschüttet werden – mit dem Ziel, sie zu gewinnen: für die Gemeinschaft, für die Sache. Und das Problem dabei ist, dass dieses Lovebombing natürlich niemals selbstlos ist. Denn es folgt einem Prinzip: Du sollst gefügig gemacht werden.
Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass es doch einfach schön ist, wenn man mit Liebe zugeschmissen wird. Aber Liebe ist etwas sehr Sensibles – und selbstlos zu lieben ist äußerst anspruchsvoll. Es verlangt von der gebenden Person, wirklich frei von eigennützigen Motiven zu handeln.
Was im Kontext von Lovebombing dann häufig passiert: Wenn diese Liebesüberschüttung irgendwann nicht mehr die gleiche Wirkung entfaltet – wenn der Mensch, der mit Liebe bombardiert wurde, beginnt, seinem eigenen inneren Navigationssystem zu folgen und kritische Fragen zu stellen – dann folgt häufig die nächste Stufe: Gaslighting.
Gaslighting ist die Strategie, jemanden an seiner eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen, indem man persönliche Erfahrungen und Empfindungen infrage stellt. Dann kommen Sätze wie: „Du bist noch nicht so reif.“ Oder: „Das bildest du dir ein.“ – „Warum fühlst du dich angegriffen? Keiner hat dich hier angegriffen.“ – „Du überreagierst gerade.“ Oder: „Du bist nur auf der geistigen Ebene, auf deiner reduzierten Ebene, und verstehst nicht, was gerade passiert.“
Ich nehme den anderen nicht ernst, wenn dieser plötzlich eine eigene Meinung äußert und sich nicht einfach so einfangen lässt.
Das Lovebombing im Kontext des sogenannten Spiritual Bypassing, wie es der buddhistische Psychologe John Wellwood definiert hat, ist Teil einer verfehlten oder übertriebenen Spiritualität, die versucht, negative Gefühle wegzudrücken und die zu erledigenden inneren Geschäfte – die wir alle in diesem Leben zu tun haben – einfach nicht anzupacken. Unsere schwierigen, unangenehmen, leidvollen Themen werden nicht bearbeitet, sondern stattdessen mit positiver Energie, „Good Vibes Only“, Lovebombing und all dem anderen Scheiß überdeckt – oder wir lassen uns davon betäuben.
Die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach: Du darfst deinen rationalen Verstand behalten – auch wenn du dich für eine spirituelle Ausrichtung interessierst.
Wenn wir empfindlich sind, wenn wir verletzt wurden, wenn wir jahrelang auf Sparflamme gelebt haben, keine Beziehung hatten, uns danach sehnen, endlich wieder Geborgenheit zu spüren – in einer Gemeinschaft, die uns aufnimmt, bedingungslos akzeptiert, oder in Partnerschaften, die uns das gute Gefühl geben, nach dem wir uns so sehr sehnen –, dann bedeutet das immer auch: wachsam zu bleiben, so schmerzhaft das ist. Denn Lovebombing kann genau hier, so schlimm es klingt, eingesetzt werden – und uns blenden.
Der Weg zu Bewusstheit ist integrativ, nicht ein Entweder-oder. Auf deinem Weg darfst du dich frei fühlen, deinen Kopf eingeschaltet zu lassen. Trotz der Schmerzen, trotz des tiefen Wunsches, dich vollständig zu fühlen – nimm immer wieder Abstand.
Wenn du also aus dem verregneten Berliner Großstadtchaos in solche Räume gehst – fühl dich wohl, genieße den Moment, aber nimm die Energie mit hinaus in die Welt.