Viele Menschen verstehen Beratung und Begleitung als etwas, das Impulse gibt. Dabei ist klar, dass wir in der sogenannten Aktivierung davon ausgehen, gemeinsame Ziele zu entwickeln – und zwar so, dass wir nicht lenken, sondern befähigen. Durch geschickte Fragen, durch Zuhören und Spiegeln sollen eigene Anliegen an die Oberfläche kommen und konkretisiert werden. Manchmal entsteht aber der Eindruck, dass da etwas anderes geliefert werden soll. Und zwar sowohl für mich als auch für dich.
Vor Kurzem bekam ich eine Anfrage in meiner Tätigkeit als Sozialpädagoge in einem Projekt. Egal, welches, spielt keine Rolle. Jemand sagte mir, er oder sie wolle dringend ein Coaching, einfach mal sprechen. „Ich brauche jemanden zum Reden.“ Das sei ja mein Auftrag, schließlich habe er oder sie Anspruch auf eine Stunde Coaching pro Woche. Aha. Ich habe Anspruch darauf, dass mir jemand zuhört. Aber das Zuhören ist kein Selbstzweck. Ich betone dann, dass diese Maßnahme irgendwann endet. Dass zumindest dieses Miteinander ein Ablaufdatum hat. Danach sind die Teilnehmenden wieder auf sich gestellt. Das Ziel ist Selbstständigkeit im Rahmen der eigenen Möglichkeiten.
Ein Kollege aus der Jugendsozialarbeit sagte einmal: „Wir sind Befähiger:innen, mehr nicht.“ Ein anderer formulierte es noch prägnanter: „Das Ziel ist, dass wir uns überflüssig machen.“
Und genau da wird es spannend und auch schwierig: Ich möchte, dass ich eines Tages nicht mehr gebraucht werde. Das dieses Gebrauchtwerden in Form von sozialer Beratung eigentlich nicht mehr nötig ist. Dass die Menschen, mit denen ich arbeite, längst wissen, was sie zu tun haben und das auch tun können was sie wollen. Am besten sogar so früh wie möglich. Dass ich vielleicht nur noch Impulse gebe – aber kein Rädchen bin, das weiterlaufen muss, damit sie sich bewegen oder bewegt werden, weil jemand über mir diesen Druck erzeugt. Als Angestellter bin ich dann auch noch darauf angewiesen, gebraucht zu werden. Es fühlt sich so verdammt gut an, anderen helfen zu können. So entstehen Abhängigkeiten und dann soll ich derjenige sagt “Toll!” oder “Nee, du musst das erledigen”. Was zum Fuck.
Ich erinnere mich an meine Knieoperation. Die Gespräche mit den Ärzten waren fachlich auf hohem Niveau, aber auch deutlich begrenzt. „Wir können uns hier keine drei Stunden Zeit nehmen“, hieß es sinngemäß. Natürlich: Das Versorgungssystem ist eine Katastrophe, ich sagte zu den Pflegerinnen immer, dass ich Ihnen gute Arbeitsbedingungen wünsche. Die Beratungszeiten in Deutschland sind kurz – viel kürzer als in anderen europäischen Ländern.
Die 20 Minuten Physiotherapie pro Woche konnte und musste ich trotzdem nutzen, um gute Fragen zu stellen, um Input mitzunehmen – das eigentliche Üben musste ich selbst übernehmen. Dass dieser Prozess empathischer und fürsorglicher sein müsste – keine Frage.
Ich verstehe, dass wir reden müssen. Ich sehe die Belastung. Ich bin aber nicht nur Zuhörer. Auch wenn das Zuhören eine zentrale Kompetenz ist, bleibt es ein Werkzeug, kein Selbstzweck. Mein aktives Zuhören bedeutet, das Gehörte zu spiegeln, in einen Kontext zu stellen, einen Prozess anzustoßen. Meine Ohren sind keine, du weißt schon: Behälter oder Mülleimer. Jeder Austausch macht auch mit mir was als Amateur, der ich in diesem beruflichen Kontext immer noch bin. Ich kann auf bestimmte psychologische Signale vielleicht reagieren, aber mir fehlen die tiefgehenden klinischen Kenntnisse. Wenn ich so tue, als hätte ich sie, handle ich dann noch fahrlässig. Deshalb muss ich Grenzen setzen, den Rahmen klären, den Auftrag definieren – und prüfen, ob ich ihm gerecht werden kann.
Ein Kollege formulierte es einmal so: „Ich kann das Pferd zur Tränke führen, trinken muss es selbst.“ Ist das wirklich kaltherzig?
Die Haltung, dass ich mich im Kern überflüssig machen will, bleibt für mich entscheidend. Und ist Maßstab für eine wirklich reife und freie Gesellschaft: eine Gesellschaft, in der Menschen wie ich eines Tages nicht mehr gebraucht werden, weil wir alle genug zum Leben haben, weil wir den Zustand erreicht haben, in welchem sich bei euch jungen Menschen nicht mehr die Brust zuschnürt, wenn du an dein Leben und die Zukunft oder was auch immer denkst.
Für mich bist du schon frei, sind wir alle frei. Das System ist es nicht. Deswegen helfe ich dir weiterhin, und du fühlst dich hoffentlich gesehen. Auch das ist die Solidarität meines Zuhörens. Aufmerksamkeit und ein Königreich sofort eingetauscht für ein Gespräch mit Tiefe.
Das Überflüssigmachen als internes Ziel einer ganzen Profession – wie spannend wäre das, so Beratung zu denken. Statt: gut, dass es dich, bedürftigen jungen Menschen, gibt und gut, dass ich dir weiterhelfen kann: auf Wiedersehen und hoffentlich bald du zeitweilige spannende Begegnung. Wohin geht die Reise nun? Ich glaube an dich, die Fähigkeit in dir. Höchstens brauchen wir uns zum gegenseitigen Erzählen unserer Lebensabenteuer. Das wäre doch was.