Als ich vor kurzem an einem Samstagvormittag bei einigermaßen gutem Wetter wieder einen Spaziergang in Berlin machte, ging ich auf einem Friedhof. Für viele ist das vielleicht ein creepiger Gedanke aber tatsächlich komme ich dort ins Nachdenken. An diesem Tag wollte ich einfach nur eine Runde drehen und bemerkte plötzlich einen Jogger, der innerhalb des großen Geländes seine Runden drehte.
Er ließ sich nicht abbringen und hatte anscheinend keinen inneren Gewissenskonflikt, an diesem Ort seine Joggingrunden zu ziehen. Jogger joggen also jetzt auch auf Friedhöfen.
Schönes Bild. Worum joggt er denn? Um sein Leben? Was geht ihm durch den Kopf, wenn er diese Runden dreht? Vielleicht ist es einfach irgendein Ort, ohne Beziehung dazu. Es könnte genauso gut ein Supermarkt sein, mit einer langen Strecke, auf der er seine Runden ziehen kann. Versucht er, eine Beziehung zu diesem Ort aufzubauen, indem er ihn umkreist? In hinduistischen Traditionen gibt es das Ritual, einen Ort oder eine Person zu verehren, indem man sie umkreist. Aber soweit war es bei ihm wohl nicht mit der inneren Reflexion. Böserweise würde ich ihm unterstellen, dass er hier einfach eine gute Strecke fand.
Das hat mich ins Nachdenken gebracht.
Vor kurzem erzählte mir ein Freund eine Geschichte. Wir kennen uns schon lange – eine spirituelle und persönliche Freundschaft durch Punkrock und Yoga. Er berichtete von einem Begräbnis eines anderen Freundes, der kürzlich an Krebs gestorben war und sich selbst als nicht religiös oder spirituell bezeichnete. Heute wohl die gängigste Selbstdefinition. Man hat eine vage Vorstellung davon, dass es etwas gibt, will es aber nicht näher definieren. Oder man akzeptiert, nicht zu wissen, was kommt, es nicht auszuschließen, es aber auch nicht weiter zu verfolgen, weil es diese unsichtbare Mauer gibt, über die wir nicht gehen können.
Mein Freund erzählte also von einem sogenannten Waldbegräbnis. Mittlerweile gibt es Orte außerhalb der Städte, wo die Überreste der Körper in den Wald gelegt werden, wo sie zu Bäumen werden und zurück zur Natur gehen.
Er beschrieb diese Szene aus seiner Perspektive. Auf der einen Seite standen Menschen, die sich verabschiedeten von einem Körper, der nur noch Materie war. Gleichzeitig gab es dieses innere Gefühl, dass da noch jemand war und jetzt wirklich jemand geht. Es gab letzte Grüße und letzte Selbstoffenbarungen gegenüber der Person – und dann war es vorbei. Und einen Grabstein gab es wohl auch nicht. Alles der Natur übergeben.
Vielleicht gibt es in Zukunft gar keine Friedhöfe mehr. Ich kann mir vorstellen, dass die menschliche Entwicklung irgendwann so weit geht, dass Friedhöfe abgeschafft werden, weil man dort „Besseres“ tun könnte, und stattdessen die Überreste wie in einem Science-Fiction-Film in irgendein großes Licht geworfen werden, wenn der Knopf auf der Handfläche leuchtet und die Zeit gekommen ist – wie bei Logan’s Run.
Dann wird der Tod etwas völlig Abstraktes, jenseits von Schmerzen, Loslassen, Abschied. Teil einer Lebensphilosophie, die alles bejaht und gleichzeitig die Augen verschließt vor inneren Schmerzen und dem Zerfall.
Die Motivation, mein Buch zu schreiben, und die Entscheidung für diese vier Abschnitte liegen darin, dass es wichtig ist, dem Thema nicht mit Plattitüden oder einer abgeklärten, resignativen Haltung zu begegnen. Wir sind in einer Gesellschaft angekommen, die immer mehr den Bezug verliert. Wir haben das Sterben anonymisiert und an die Außenbezirke ausgelagert.
Vielleicht versuchen wir es auszulagern, aber es lässt sich nicht auslagern. Es betrifft jeden Menschen, mich eingeschlossen. Das erschüttert mich und macht mir Angst. Gleichzeitig sehe ich darin eine Aufforderung, nicht um mein Leben zu rennen und mich nur auf Erhalt zu konzentrieren, sondern den Sinn in den Mittelpunkt zu stellen.
Wenn ich mir überlege, dass die Zeit für mein spirituelles Wachstum die gleiche Energie erfordert wie der Jogger für seine Gesundheit, dann ist das die Grundsatzfrage: Was stellen wir voran? Und wie finden wir innerlich wieder zum Wesentlichen zurück in dieser beschleunigten Welt, in der die Jogger um ihr Leben laufen?