Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und nicht selten überwiegt bei vielen jungen
Menschen auf Jobsuche ein mieses Gefühl in Bezug auf die Zukunft. Gerade neulich hatte ich im Coaching eine Begegnung mit einer jungen Frau, die frisch ihr Studium abgeschlossen hatte und sich eigentlich auf den Berufseinstieg freuen wollte – bis sie erfuhr, dass in ihrer Branche Stellen durch künstliche Intelligenz zunehmend eingespart werden und sie jetzt arbeitslos ist. Krass und absurd zugleich: In manchen Grafikagenturen ersetzen KI-Systeme anscheinend immer mehr menschliche Kreativität.
Gut ist, dass diese Person schon Pläne hat und sich nun – wohl oder übel – neu orientieren wird, ihr kreatives Potenzial vielleicht mit sozialem Engagement verbindet und dann doch weiter auf ihrer Spur bleiben kann. Aber was macht das eigentlich mit uns, wenn wir Zeit investieren, Pläne schmieden und, wie ich es in meinem Buch beschreibe, in der Welt tätig werden wollen – und plötzlich tritt eine völlig neue Situation ein, die uns zwingt, unsere Landkarte komplett neu zu zeichnen? Wenn da plötzlich garnichts mehr zu sehen ist, kein Weg, kein Schild, Nur Wildwuchs und Ende im Gelände?
Noch viel schwerer als ein Job kann es sein, wenn wir eine innere Verschiebung erleben, die grundlegendere Dinge betrifft: unsere Identität, unsere Vorstellungen von einem guten oder „richtigen“ Leben. Wenn wir merken, dass alte Konzepte nicht mehr zu uns passen.Sich flexibel in der modernen Jobwelt zu bewegen, ist schon schwer genug. Aber ein ganzes Wertesystem, alte Überzeugungen oder Selbstbilder in Frage stellen zu müssen, ist nicht minder herausfordernd.
Ich erinnere mich an eine Dokumentation über drei sehr alte, stark tätowierte Männer aus der Hamburger Tattooszene, die mich sehr beeindruckt hat: Herbert Hoffmann und zwei weitere, deren Namen ich vergessen habe. Drei alte Männer, damals um die 90, inzwischen alle verstorben. Sie erzählten, wie sie zur Tätowierung gekommen waren. In ihrer Jugend war das in Hamburg etwas völlig anderes – man war dadurch Außenseiter.
Einer von ihnen stammte aus gutbürgerlichen, fast aristokratischen Verhältnissen. Ein Leben lag klar vor ihm; er war verheiratet, alles war vorgesehen. Und dann interessierte er sich im späteren Alter plötzlich für Tätowierkunst, wurde mit Hoffmann befreundet – und bekannte sich gleichzeitig als schwul. Ich stelle mir vor, was für ein gewaltiger innerer Zusammenbruch das gewesen sein muss: eine Identität anzunehmen, die bisher nicht gelebt werden durfte.
Wie gehen wir mit solchen Momenten um, wenn wir spüren, dass sich unser Weltbild verschiebt? Wenn etwas zusammenbricht, das wir längst auf wackeligem Fundament zusammengekittet haben – aber das eigentlich Platz machen muss. Für was genau, wissen wir oft noch nicht.
Ich stelle mir vor, welchen inneren Konflikt dieses Eingeständnis vor sich selbst bedeutet hat – dieses Nicht-mehr-Weglaufen-Können vor der eigenen Realität. Und wie groß zugleich die Befreiung gewesen sein muss, endlich so leben zu können, dass es funktioniert.
Wenn ich im Coaching mit jungen Menschen spreche – gerade mit denen, die schwierige Bildungsbiografien hatten, schlechte Schulerfahrungen, die im Beruf nie richtig Fuß fassen konnten und oft nicht wissen, was sie wollen –, ist das für mich ein zentraler Ausgangspunkt: die Frage, was sie im Innersten wirklich anzieht.
Und wovon sie sich vielleicht innerlich verabschieden müssen: Vorstellungen anderer, Erwartungen von Erwachsenen, der Einfluss von Peers. Oder eine tief sitzende Vermeidungsbewegung, ein ständiger Druck, gegen die eigenen Versagensängste anzukämpfen. Die Vergangenheit, die vielleicht von Kriminalität, verpassten Chancen oder ziellosem Verhalten geprägt war. Hier kommen oft Reue und Verbitterung hoch, das Gefühl, ein Leben verschwendet zu haben.
An diesem Punkt wäre auch ich müde und ehrlich gesagt genervt, wenn jetzt jemand mit einem positiven Reframing oder einer „denk einfach positiv“-Plattitüde um die Ecke käme. Ich glaube daran schlicht nicht. Krisen zu erleben – plötzlich alle Pläne über Bord werfen zu müssen, oder zu merken, dass man nur die Pläne anderer auslebt – ist kein Spaziergang. Und nichts, was man leicht positiv umdeuten kann.
Was inspirieren kann, ist vielleicht das Beispiel aus der Dokumentation: dass wir immer wieder die Erlaubnis haben, umzukehren und selbst in Krisen einen neuen Weg einzuschlagen.
Das ist übrigens der Kern der Bhagavad Gita – eine Art Krisengespräch zwischen Arjuna, dem Kämpfer, und Krishna, seinem Wagenlenker. Arjuna ist derjenige, der kurz vor einer unvermeidlichen Auseinandersetzung plötzlich fliehen möchte.
Es ist okay, innezuhalten.
Es ist okay, überfordert zu sein.
Nimm dir die Zeit, nimm dir die Pause, beobachte.
Die buddhistische Lehrerin Pema Chödrön vergleicht diesen Moment mit dem Blick in eine Schlucht: Wir stehen auf einem Berg und schauen hinab. Wir müssen keine Entscheidung treffen. Wir beobachten. Wir sehen. Wir halten inne – in diesem Raum zwischen Erschütterung und Neubeginn.
Vielleicht ist es genau dieser Raum, der ausgehalten werden will. Ausgesprochen, artikuliert, anerkannt. Auch das darfst du dir erlauben. Du darfst Phasen haben, in denen du dich weder für das eine noch für das andere entscheidest, sondern erst in die innere Auseinandersetzung gehst – das, was Erik Erikson ein „Moratorium“ nennt.
Und dann, irgendwann, triffst du eine Entscheidung, packst deine innere Schaufel, die Taschenlampe und ein paar andere innere Tools ein (Mehr dazu in meinem Buch) und gehst den ersten Schritt in ein unbekanntes Gelände, das noch niemand betreten hat.
Und findest plötzlich wieder deine Spur.