Welche Gedanken, Gewohnheiten, Meinungen, Geschmäcker und Aversionen haben wir uns wirklich selbst ausgesucht? Sind wir in der Lage, jede einzelne Quelle zurückzuverfolgen – bis zu dem Punkt, an dem wir manipuliert wurden und jemand etwas in unser Denken eingepflanzt hat?
Eine Theorie, die mich bei der Beschäftigung zu dieser Frage im Studium fast vom Stuhl gehauen hat, war der soziologische Klassiker von David Riesman, Die einsame Masse. Schon im Titel steht der Widerspruch, den Riesman beschreibt: das Gefühl, dass man als Mensch in einer Massengesellschaft innerlich immer wieder auf der Suche ist. Und trotz der Tatsache, dass wir mit Millionen von Menschen verbunden sind – vor allem als junger Mensch –, ist die Peergroup in den sozialen Medien nicht mehr die zwei, drei Freunde, mit denen du früher um die Häuser gezogen bist, sondern mittlerweile die ganze Welt, die diese Funktion übernehmen kann – und leider übernimmt. Das macht uns in der Masse trotzdem irgendwie seltsam einsam. Wir werden bewertet und betrachtet von Menschen, die wir nicht kennen und bitten teilweise sogar darum, bekommen Glücksgefühle oder verachten uns in den Boden.
Die Frage ist wirklich spannend und wichtig, das Ganze einmal aufzubrechen und zu verstehen, was da überhaupt abläuft, wenn wir glauben, individuelle Entscheidungen zu treffen und uns mit anderen vergleichen. Der subtile Zwang zur Individualität ist ja ein Thema, das in den letzten Jahren immer wieder diskutiert wurde – also der Druck, unbedingt individuell sein zu müssen, als kollektives Symptom der Massengesellschaft. An dieser Stelle wird ein fast schon antiquiertes Buch spannend.
Der Soziologe David Riesman analysierte in den 50er Jahren eine Entwicklung in der modernen amerikanischen Nachkriegsgesellschaft und beobachtete eine interessante Veränderung, vor allem in der Arbeitswelt, aber auch in der jungen amerikanischen Gesellschaft, die sich zunehmend von außen durch Massenmedien in ihrer Meinungsbildung und der Entwicklung persönlicher Geschmäcker beeinflussen ließ. Zunächst versuchte Riesman jedoch grundsätzlicher zu beschreiben, warum wir Menschen uns in diese Richtung entwickelt haben.
Riesman beschrieb dabei, dass Gesellschaften in erster Linie durch demografischen Wandel unterschiedliche Gesellschaftstypen hervorbringen.
Um es einfach zu machen: In einer Gesellschaft mit wenig Ressourcen, in der die Menschen stark davon abhängig waren, feste, stabile Beziehungen zu haben, um ihr Überleben zu sichern, war das Individuum nur insofern wichtig, als es dem Kollektiv in seiner festgelegten Funktion diente. Es gab keine Zeit und keine Möglichkeit darüber nachzudenken, ob der Schmied sich vielleicht in anderen Bereichen verwirklichen könnte, da er in seiner Funktion überlebenswichtig war für die Gemeinschaft.
Mit der Modernisierung der Gesellschaft, die mit Industrialisierung einherging, und einer wachsenden Schicht von Menschen, die sich über Geschäftstätigkeiten und innovative Ideen von starren Bindungen lösten, in die Städte zogen und eigene Ideen verwirklichten, entstand als Folge des traditionsgeleiteten Menschen der Charaktertyp des innengeleiteten Menschen.
Diese Menschen mussten sich von inneren Prinzipien, von einem inneren Kompass leiten lassen, um ihre Ideen und Konzepte umzusetzen. Auch die Kinder dieser Menschen wurden im gleichen Glauben erzogen: ein festes Wertesystem in sich zu tragen, ein Repertoire an Prinzipien und Welterklärungen, das ermöglichte, erfolgreich zu sein, aber auch zu überleben. Der von Tugenden und Werten innengeleitete Mensch, der sich Grundsätze wie „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ als innere Leitplanken setzte, glaubte daran, dass nur diese Verankerung in einer chaotischen Welt Sicherheit garantieren konnte.
In der modernen Gesellschaft, die sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte – mit einer Zunahme an Massenmedien, Konsumartikeln, einer Beruhigung der gesellschaftlichen Lage, Bevölkerungswachstum und größerer Verfügbarkeit –, veränderten sich die Anforderungen. Junge Menschen hatten mehr Zeit, und Eltern konnten sich mehr in die entstehende Spaßgesellschaft einfügen, wenngleich traditionelle Vorstellungen weiter existierten und die Welt keineswegs frei war. Doch es gab immer mehr Möglichkeiten der Individualisierung, und durch Massenmedien entstand der Druck, sich permanent um eine eigene Haltung bemühen zu müssen.
An diesem Punkt sind wir. Wir leben in einer komplexen Welt, in der wir als mündige Bürgerinnen und Bürger immer informiert bleiben und uns permanent neu orientieren müssen. Das Problem ist, dass der außengeleitete Mensch – anders als der innengeleitete – keinen Kompass mehr hat, sondern ein Radar, das sich permanent an den Werten und Gesprächen der Außenwelt orientiert und ihn in eine dauerhafte Verunsicherung manövriert.
Riesman beschreibt auch aus der verstaubten Vergangenheit sehr treffend, dass Kinder heute nicht mehr wie früher ein inneres Wertesystem von den Eltern eingepflanzt bekommen, sondern es sich durch ihre Peergroup holen, da diese das soziale Überleben garantiert.
Auch du als junger Erwachsener kennst das Problem des Abgleichs sicherlich: die Angst, von der sozialen Bezugsgruppe abgelehnt oder lächerlich gemacht zu werden, wenn man Erwartungen nicht erfüllt – etwa beim Wissen über Markenklamotten oder über die „richtigen“ Ideen und Konzepte. Die Konformität, die auf subtile Weise erfordert, ständig sensibel zu sein für Erwartungen und Präferenzen anderer, macht uns zu einem nervösen inneren Radarwesen, das sich permanent abgleichen muss. Schau dir die permanente Verfügbarkeit des Handys an und die Hochgefühle bzw. Frustrationen durch Likes und Dislikes in sozialen Medien.
Die Massenmedien und die fiktiven Peergroups sind heute unsere Jury, würde Riesman sagen. Damals sprach er noch von Fernsehgeräten, Radios und Comics, die Kinder auf dem Schulhof tauschten, um sicherzustellen, dass alle auf dem gleichen Stand sind. Heute ist die Situation beschleunigt und verstärkt.
Was ist also der Weg nach draußen?
In unserer Gesellschaft liegt das Ziel möglicherweise in der Entwicklung von Autonomie – also in der Fähigkeit, die eigenen, oft unbewussten Tendenzen zur Übernahme fremder Vorstellungen kritisch zu überprüfen und sich immer wieder zu fragen, inwieweit wir konform mit Erwartungen gehen.
Die Autonomie, so wie Riesman sie versteht, ist ein Pendeln zwischen der Wahrnehmung der außengeleiteten Radartätigkeit und dem inneren Kompass, der uns aber manchmal nicht flexibel genug macht.
Autonomie in der modernen Gesellschaft könnte – auch im Blick auf Karriere- und Zukunftsplanung – also bedeuten, flexibel und beweglich zu bleiben und innerhalb einer komplexen Welt selbstständig und autonom zu wählen, was wir für richtig halten und worin wir unseren Auftrag sehen, in dieser Welt etwas zu hinterlassen.
Das wäre dann vielleicht eine Definition von gelebter Individualität, die die Faktoren wahrnimmt, die uns beeinflussen, sich aber nicht vollständig von ihnen bestimmen lässt. Und uns somit nicht mehr einsam in einer Masse fühlen lässt, sondern selbstbestimmt und zufrieden mit uns. Weg von dem permanenten Abgleich, unterschwelliger Angst, sich permanent irgendwie falsch zu fühlen.