KARUNA: MITGEFÜHL, das HALTUNG ZEIGT

In meinem Buch versuche ich, eine greifbare und konkrete Interpretation von Spiritualität zu vermitteln – so, wie sie für mich als jungen Erwachsenen funktioniert hat. Eine Frage, die mich dabei beschäftigt, ist, inwieweit Spiritualität als Haltung gedacht werden kann und nicht nur als Gefühlsarbeit in einem inneren Rückzug von der Welt stattfindet. Ich denke sogar, dass es eine sehr starke Verbindung zwischen Spiritualität und sozialer Verantwortung gibt – allerdings geht das nicht ganz ohne eine Brücke, die ein wichtiger Theologe für mich gebaut hat.

Zunächst aber ein Grundproblem: Spiritualität, die sich auf das Gefühl konzentriert, kann zu einer einzigen Nabelschau werden. Gleichzeitig versuchen ehrgeizige Spiritualisten, alles richtig und perfekt zu machen – mit der besten Matte, der idealen Pose und der vollkommenen Selbstvermarktung mit Heiligenschein und Pseudodemut zu einem einzigen erhöhten Ich zu verschmelzen. Gleichzeitig passiert noch etwas anderes: Eine Überidentifikation mit den vermeintlichen Errungenschaften, die durch Yoga-Praxis zustande kommen, sabotiert das eigentliche Ziel. Das permanente Bedürfnis, sich selbst darzustellen, alle Fortschritte, innersten und persönlichsten Erfahrungen sofort mit der Außenwelt teilen zu müssen, fällt leicht dem narzisstischen Bedürfnis nach Geltung zum Opfer. Ich muss mich an dieser Stelle übrigens selbst kneifen und aufpassen.

Das eigentlich Gravierende ist der Verlust an Haltung. Bei vielen habe ich den Eindruck, dass durch die permanente innere Arbeit der Bezug zur sozialen Wirklichkeit verloren geht. Kriege und Konflikte werden ausgeblendet, von einem inneren Elfenbeinturm aus als ewiges, unbeeinflussbares Geschehen altklug kommentiert. Keine Frage: Die Welt ist komplex, und sich selbst zu schützen, sich aus dem Getümmel herauszuziehen, ist ein gesunder Reflex. Mein Bedarf an Großstadtgrobheit lässt mich schon lange den Wunsch hegen, friedlich irgendwo an einem stillen Ort dieser verrückten Welt den Rücken zu kehren.

In meinem Buch zitiere ich an vielen Stellen Viktor Frankl und Alfred Adler, da sie als Psychologen und Psychotherapeuten immer wieder betonen, wie wichtig es ist, sich in der Welt zu bewegen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen und sich nicht vor ihr zu verkriechen.

Ohne Innenschau, ohne innere Arbeit, kann jedes Engagement und das Eintreten gegen die Ungerechtigkeit der Welt aber auch als Ego-Trip verstanden werden – als eine überstrapazierte Form der Weltbeziehung, der ein innerer, tieferer Grund fehlt. Vor allem liegt die Gefahr darin, dass sich hier ein gewisser Zynismus und eine Aggressivität entwickeln, die schließlich in ein Burnout umschlagen können.

Ich denke deswegen, dass es kein Widerspruch ist, wenn wir uns in der Welt bewegen und sie verändern wollen, Spiritualität aber gleichzeitig als einen tieferen Bezugspunkt sehen, der uns durch Innenschau hilft, zu verstehen, was wir im Außen wirklich bewirken können und wollen.

Der feste Grund, aus dem diese Haltung erwächst, kann als Karuna verstanden werden – Mitgefühl mit allen Lebewesen. Wenn Liebe nur als Zustand oder Gefühl verstanden wird und nicht als Haltung, die durch Mitgefühl und Verantwortung zu einer Handlung werden kann, dann fehlt dieser Liebe der Boden, der sie beständig und konkret macht. Sie ist nicht nur auf der emotionalen Ebene verhaftet, sondern tief verbunden mit einem ethischen Prinzip, das Verantwortung mit ins Spiel bringt – Verantwortung, mit anderen Menschen mitfühlend umzugehen und diese Welt nicht passiv zu ertragen.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer spricht in seiner Ethik und in vielen anderen Texten von der Verantwortung, die wir gegenüber der Welt haben – eine Verantwortung, die sich nicht durch möglichst reines Gewissen oder Reinheit im Denken zeigt, sondern durch den Mut, sich die Hände schmutzig zu machen. Am konsequentesten und radikalsten wird Bonhoeffer in seiner Überzeugung, dass Christsein auch bedeuten kann, im festen Vertrauen auf das Gute der Welt einzutreten und sich dabei „zu versündigen“. In seinem Fall bedeutete das, dass er sich als Christ an einem Attentat auf Hitler beteiligte. Er tat dies nicht aus Hass oder Verachtung, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass Christsein nicht heißt, sich passiv aus der Welt herauszuziehen, sondern unbequeme Wahrheiten auszusprechen und zu handeln.

Bonhoeffers Eintreten für die Welt beeindruckt mich tief. Hier kommt die Verbindung zur Bhagavad Gita: Auch dort gibt es eine Person, die zögert und hadert, weil sie sich die Hände schmutzig machen müsste. Arjuna steht auf dem Schlachtfeld und will sich entziehen. Er ringt mit seinem Gewissen und wird in seinem tiefen Gespräch mit Krishna schließlich darin bestärkt, dass er nicht fliehen kann. Er handelt – trotz aller Zweifel.

Ich denke, dass Spiritualität, wenn sie nicht unbequem ist, wenn sie sich in makelloser Selbstinszenierung verliert, ihren Kern verfehlt. Wahre Spiritualität begibt sich in die Welt und bezieht Position – gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Sexismus, Diskriminierung, Rassismus.
Das ist ebenfalls Ausdruck von Liebe: einer Liebe, die nicht nur in Gefühlen bleibt, sondern in Entscheidungen sichtbar wird. Einer Liebe, die mutig ist – statt immer nur zu versuchen, eine reine weiße Weste zu behalten.