Ich habe vor Kurzem einen Artikel gelesen, der sich sehr kritisch mit der Masse an Selbsthilfe-Ratgebern auseinandersetzt, die derzeit auf dem Markt sind. Angefangen von The Let Them Theory bis hin zu Büchern wie The Art of Not Giving a F** * oder ähnlichen Titeln – tausende Ratgeber, die alle mehr oder weniger dasselbe versprechen.
Der Artikel kritisierte, dass die Stoßrichtung vieler dieser Bücher, wenn man sie zusammenfasst, letztlich darin besteht, das Individuum und seine eigenen Themen in den Mittelpunkt zu stellen – anstatt von Gemeinschaft zu sprechen oder das Gemeinsame, das Verbindende, in den Vordergrund zu rücken.
Interessant war, dass sich der Artikel auch auf Bücher bezieht, die ich selbst in meinem eigene Werk erwähne, etwa The Courage to Be Disliked, das die Ideen von Alfred Adler in ein philosophisches Gespräch kleidet. Als ich diesen Artikel im Guardian las, musste ich tatsächlich darüber nachdenken, inwieweit wir heute in einer Zeit leben, in der Menschen Selbsthilfe-Ratgeber konsumieren – und zwar nicht nur in Buchform, sondern auf allen möglichen Kanälen, über Instagram, Podcasts oder Social Media.
In dem Artikel wird etwa kritisiert, dass Adlers Gedanken in The Courage to Be Disliked stark verkürzt dargestellt werden. Adler, der davon ausging, dass das Gemeinschaftsgefühl das eigentliche Ziel menschlicher Entwicklung sei – dass wir also lernen sollten, gemeinschaftsfähig zu werden – würde, so der Autor, mit den Augen rollen, wenn er sähe, wie seine Ideen heute banalisiert und durch den psychologischen Fleischwolf gedreht werden.
Dieser Gedanke ist durchaus nachvollziehbar. Tatsächlich findet man vieles, was sogar einst von Viktor Frankl formuliert wurde, heute in Form von Memes wieder – oft unterlegt mit Bildern, die Willensstärke und Disziplin verkörpern wollen. Was natürlich nie der Ausgangspunkt dieser Ideen war.
Andererseits stellt sich mir hier eine zentrale Frage: Inwieweit kann ein Buch oder prägnante Aussagen daraus tatsächlich therapeutisch wirken?
Viktor Frankl hat dazu einmal einen Aufsatz geschrieben, in dem er beschreibt, dass durchaus auch ein Buch ein Therapeutikum sein kann. Ich würde das noch erweitern. Denn wenn wir den Begriff „Therapie“ so verstehen, dass wie ein Ventil oder ein Medium zur Transformation wirken kann –, dann können Bücher auf individueller Ebene sehr wohl heilsam sein. Auch, wenn ich diese für mich zurückgezogen in meinen vier Wänden möglicherweise „konsumiere“ und hier vielleicht sogar schon in einen interessanten Dialog mit diesem Werk trete. Therapieeffekte allein auf den wöchentlichen Austausch mit einem professionellen Begleiter zu reduzieren oder davon abhängig zu machen – so wichtig und wertvoll diese Gespräche sind – greift zu kurz. Denn letztlich geht es ja genau dort darum, Strategien zu entwickeln, die auch zwischen den Sitzungen wirken: im Alltag, im Denken, im Handeln.
In meiner eigenen Therapie, die ich mit Ende zwanzig durchlief – damals voller Unsicherheit und großer Fragezeichen, wie es beruflich und persönlich weitergehen sollte – war genau das der Kern. Mein Therapeut versuchte nicht, mir zu sagen, was ich tun sollte. Er hörte zu, stellte kluge Fragen, gab Impulse – und half mir so, eine innere Strategie zu entwickeln, die nicht schriftlich fixiert war, aber funktionierte. Bücher zu lesen, gehörte für mich dazu, war fast schon essentiell.
Selbsthilfebücher können einen Effekt haben. Die Kritik des Artikels liegt darin, dass viele dieser Bücher den Blick zu sehr auf das eigene Ich lenken – auf die Selbstoptimierung, das Selbstmitleid, das Selbstmanagement.
Vor Kurzem habe ich The Let Them Theory als Hörbuch gehört und kann dieser Kritik teilweise zustimmen. Auch dort wird vermittelt, dass wir uns vor allem um uns selbst kümmern und die anderen einfach machen lassen sollen, weil wir sie ohnehin nicht ändern können. Das hat seine Berechtigung – aber auch seine Grenzen.
Ich arbeite derzeit in der sozialen Arbeit mit Menschen, die vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Menschen, die alleinerziehend sind und an Depressionen leiden, deren heranwachsende Kinder sie zu Hause tyrannisieren, weil sie selbst gerade in ihrer Identitätsfindung stecken. Ich arbeite mit jungen Menschen, die die einzigen in ihren Familien sind, die morgens den Wecker hören und aufstehen – während der Rest des Familiensystems sich innerlich längst verabschiedet hat. Und natürlich geht es in meiner Arbeit darum, genau solche Fragen zu stellen: Was kannst du jetzt tun? Was musst du tun – auch wenn deine Umwelt dich nicht unterstützt?
Ich sage dann oft genau das: Vergiss mal den Rest um dich herum. Hör auf, Ansprüche zu stellen. Du wirst sie nicht ändern können. Jetzt geht es darum, dich um dich selbst zu kümmern.
Diese Momente sind oft ein Schock – aber auch eine Erleichterung, weil sie Klarheit bringen. Sie holen die Verantwortung zurück.
Eigenverantwortung zu fördern ist das Gegenteil von Ego-Trip Förderung. Das heißt, dass ich Menschen nicht zur Rücksichtslosigkeit ermutige, eher aber dazu, auch da Grenzen zu setzen, wo sie notwendig erscheinen oder bewusst mal die inneren Fenster aufzumachen, wenn dies gerade erfordert wird. Und logisch: Ein guter Coaching-Ansatz sollte für mich letztendlich immer die Fähigkeit fördern, solidarisch zu handeln und sich als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen.
Manchmal ist es aber eben notwendig, sich bewusst herauszunehmen – sich selbst zu stabilisieren, bevor man wieder Teil der Gemeinschaft sein kann. Das steht nicht im Widerspruch dazu, empathisch oder wohlwollend zu sein.
Alfred Adler hat betont, dass das Ziel der Entwicklung darin besteht, ein Gemeinschaftsmensch zu werden – also jemand, der seine Mitmenschen wahrnimmt und in Beziehung zu ihnen handelt.
Und doch könnte man heute, im Rückblick, kritisch fragen, ob Adler seine Betonung des Gemeinschaftssinns vor dem Hintergrund dessen, was später im Dritten Reich geschah, vielleicht selbst relativiert hätte. Denn eine ausschließliche Orientierung am Kollektiv kann – in ihrer extremen Form – dazu führen, dass individuelle Bedürfnisse vernachlässigt werden. Sicherlich dachte Adler hier komplexer und sah in der Idee des Gemeinschaftsmenschen auch die Möglichkeit bereits in der Schule Orte zu schaffen, wo dummes Konkurrenzgehabe durch die Idee der Gleichwertigkeit ersetzt werden könnte. Er war hier seiner Zeit mehr als voraus.
Als individualpsychologischer und existenzanalytischer Coach wird die Gegenüberstellung von Adler und Frankl noch interessanter. Frankl, der durch seine persönlichen Erfahrungen in den Konzentrationslagern unmittelbar erlebt hat, was es bedeutet, wenn Menschen pauschal zu Gruppen zusammengeschlossen, diskriminiert und schließlich vernichtet werden, hat den Sinn – das persönliche Streben nach Sinn – radikal neu definiert.
Er betonte, dass selbst in aussichtslosen Situationen, wenn niemand mehr da ist, wenn alles verloren scheint, der Mensch immer noch die Freiheit behält, sich über diese eine Frage zu definieren: Welchen Sinn gebe ich dem, was mir widerfährt? Dieser Gedanke stellt für mich einen entscheidenden Bezugspunkt dar. Denn gerade dann, wenn ich auf mich selbst zurückgeworfen bin, wenn ich wirklich nichts anderes mehr habe, kann genau das hilfreich sein.
Für mich ist also zentral: Selbsthilfe-Ratgeber müssen nicht zwangsläufig dazu führen, dass man zum narzisstischen Arschloch wird, wenn man sie liest. Es kommt auf den Kontext und Lebenslage an. Sie können allerdings den Egoismus und Narzissmus weiter unterfüttern, gerade wenn es im eigenen Erleben wenig Erfahrungswerte von oben erwähnten Lebenswelten existiert. Auch das hat Adler aus meiner Sicht übrigens bereits früh erkannt, wenn er bestimmte Charaktertypen, die ihre Welt um sich herum als Selbstbedienungsläden verstanden, beschrieb.
Ein zweiter Gedanke ist, dass die Branche der Selbsthilfe-Lebensratgeber ja keineswegs neu ist.
Im Grunde genommen war Alfred Adler mit seinem Buch Menschenkenntnis und mit seinen Bemühungen, Psychologie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ein Wegbereiter dieser Bewegung. Er initiierte öffentliche Treffen, bei denen Menschen gemeinsam über psychologische Themen diskutieren konnten – Laien ebenso wie Fachleute. Das war ein wichtiger Schritt: zu erkennen, dass auch Nicht-Expert:innen befähigt sind, sich selbst zu helfen und psychologische Werkzeuge im Alltag anzuwenden.
Den Radius der Selbsthilfe-Literatur würde ich ohnehin erweitern – um Autor:innen wie Erich Fromm oder Hannah Arendt. Arendt etwa formulierte mit ihrem Konzept der Vita Activa ja hier die durchaus relevante Idee, dass der Mensch und sein Handeln immer eingebunden ist in gemeinschaftliche Zusammenhänge, die letztlich auch einen politischen Charakter haben – etwas, dass im Coaching kontext durchaus ermutigend wirken und genauso eingesetzt werden kann.
Wenn ich mit arbeitslosen Menschen arbeite, versuche ich immer deutlich zu machen, dass ich nicht der alleinige Experte im Raum bin. An einem Tisch sitzen oft fünf oder sechs Menschen mit völlig unterschiedlichen Biografien, Erfahrungen und Herausforderungen – und jeder von ihnen ist auf seine Weise Experte. Oft können sie sich gegenseitig helfen: beim Schreiben von Bewerbungen, bei der Suche nach Beratungsstellen für Erziehungsfragen, bei Behördengängen.
Auch das ist Selbsthilfe – und setzt immer die Aktivierung des Einzelnen voraus.
Das für mich interessanteste Coaching-Gespräch, das vieles davon zusammenfasst, findet sich in der Bhagavad Gita: das Gespräch zwischen Arjuna und Krishna, mitten auf dem Schlachtfeld – also im echten Leben. Es handelt von der unmittelbaren Herausforderung, zu handeln, wenn kaum Spielraum bleibt. Sich zu entscheiden, Verantwortung zu übernehmen – auch mit dem Risiko, Fehler zu machen –, das ist der Kern. Nicht Perfektion, sondern Bewusstheit. Authentizität.
Meine Empfehlung beim Lesen oder Anschaffen von Ratgebern lautet daher: Überlege dir, in welchem Kontext dir das, was du liest, wirklich helfen kann. Filtere das Wesentliche heraus – und lege das Buch auch wieder weg, wenn du spürst, dass du die Lektion, die du gerade brauchtest, bereits gelernt hast.
Ich glaube definitiv nicht, dass es die eine Methode gibt, mit der wir alle Probleme lösen können. Schon deshalb nicht, weil wir Menschen niemals völlig unabhängig von den Einflüssen unserer Umwelt gedacht werden können – und doch immer die Freiheit besitzen, im Rahmen dieser Bedingungen zu handeln. Dazu kommt meine grundsätzliche Skepsis gegenüber reduktionistischen Ansätzen, die menschliches Verhalten ausschließlich biologisch oder mechanistisch erklären wollen. Ich möchte keine pauschalen Vorwürfe gegenüber Fachdisziplinen erheben, aber ich wäre vorsichtig, wenn jemand behauptet, wir seien nichts weiter als ein auf Reiz und Reaktion reduziertes Gehirn. Das greift zu kurz. Doch das ist eine andere, viel größere Frage.
In jedem Fall glaube ich, dass die mündigen Leserinnen und Leser von Selbsthilfe-Ratgebern diejenigen sind, die sich immer auch als Teil einer Gemeinschaft verstehen – und trotzdem ihre individuellen Spielräume ernst nehmen. Menschen, die gerade in schwierigen Phasen das, was ihnen begegnet, als Antrieb nutzen.
Natürlich dürfen wir dabei nicht vergessen, dass wir in einem kapitalistischen, marktorientierten System leben, in dem auch die Motive vieler Autor:innen nicht immer von Gemeinsinn geprägt sind.
Auch das gehört zur Wahrheit. Man sollte diese Interessen erkennen – und sich davor schützen, blind zu konsumieren. Ich erinnere mich hierzu an eine Diskussion über das Buch The Secret, das versprach, man könne durch die Kraft der Gedanken und Wünsche an das Universum zum Millionär werden.
Letztlich wurde dadurch vor allem eine Person wirklich reich: die Autorin.
In diesem Sinne. Wachsam und selektiv bleiben beim Lesen von Selbsthilfe-Ratgebern.