Vollständigkeit statt Perfektion

Stell es dir so vor: Du stehst zwischen verschiedenen Kräften, vielleicht auf einem Schiff, das in starkem Wellengang hin und her geschubst wird. Oder du stehst an der Reling und musst dich ins Innere des Schiffes retten.

Du musst also loslassen und gleichzeitig Kontrolle behalten. Dieses permanente Driften zwischen Chaos und Struktur passt auch zu den Gedanken und der Frage, worum es dir eigentlich geht – ob du eine starre, unerreichbare Idealvorstellung anstrebst, die wie ein Granitstein tief in den Boden deines Kopfes geschlagen wurde, oder ob es doch darum geht, wandelbar und vor allem menschlich zu bleiben.

Daher geht es um Vollständigkeit und die Frage, was das bedeutet. In diesem Zusammenhang ist eine Geschichte interessant, die eine Figur vorstellt, die genau diese Widersprüche verkörpert. Shiva ist in der hinduistischen Mythologie eine herausragende Person, da er sowohl für die Zerstörung als auch für die Schöpfung steht – und darüber hinaus sowohl der Gott des Tanzes als auch der Gott der wilden Verfluchungen und Kämpfe ist.

Das sind Aspekte, die uns auf den ersten Blick völlig widersprüchlich erscheinen und sich gegenseitig auszuschließen scheinen, bei näherer Betrachtung aber ein Bild aufzeigen. Es gibt zum Beispiel die Geschichte von Shiva, der aus Wut über die Beleidigung des Vaters seiner Frau ein Ritualfeuer zerstört und anschließend eine Horde von Dämonen zu diesem arroganten Vater schickt. Erst nachdem ein Trümmerfeld entstanden ist, kann er seine Wut loslassen und sich beruhigen.

Dieser Aspekt wirkt unkontrolliert, fast wie ein Wutrausch ohne Kontrolle, und könnte das Bild eines Wesens zeichnen, das sich nicht ganz im Griff hat.

Andererseits gibt es einen anderen Aspekt von Shiva, nämlich die Geschichte von der Quirlung des Milchozeans, die in der Mythologie eine besondere Rolle spielt. Um es einfach zu beschreiben: Dämonen und Halbgötter tun sich zusammen, um den Ozean zu quirlen und dadurch ein besonders machtvolles Elixier zu gewinnen.

Dummerweise entsteht dabei auch ein Gift, das die gesamte Menschheit vernichten könnte. Und nur Shiva gelingt es, durch seine aufopfernde Haltung dieses Gift zu schlucken und in seinem Hals aufzubewahren, was zu einer blauen Färbung seines Körpers führt. Shiva ist beides: völliger Asket, jederzeit bereit, in tiefste Enthaltsamkeit zu gehen, und gleichzeitig lustvoll tanzend, scheinbar seine Triebe zügellos auslebend. Aus unserer vielleicht eher eindimensionalen Perspektive könnte das widersprüchlich erscheinen.

Worum es aber geht, ist, dass hier die Vollständigkeit hervorgehoben wird und nicht die Perfektion.

Gerade in der vollständigen Darstellung aller möglichen Aspekte unserer menschlichen Natur – Aspekte, die integriert werden und je nach Anlass ihre Gültigkeit haben können. Wut kann durchaus nützlich sein, wenn es darum geht, sich zu verteidigen. Genauso wie absolute Losgelöstheit und Entsagung angebracht sein können, wenn wir zurücktreten sollten, um anderen Menschen zu helfen.

Das Bestehen sollte für dich also immer auch bedeuten, dir die Frage zu stellen, welche Aspekte deiner Persönlichkeit – die, wie jede Persönlichkeit, widersprüchlich ist – integriert werden können und ihren berechtigten Platz haben. Kein Mensch ist perfekt. Je stärker wir versuchen, eine Fassade aufrechtzuerhalten, desto mehr geraten wir in innere Konflikte.

Es geht nicht darum, etwas zu imitieren. Bestehen bedeutet vor allem, flexibel zu bleiben – je nach Anlass und je nach Herausforderung der Situation entsprechend reagieren zu können und handlungsfähig zu sein, anstatt an einem idealisierten Bild festzuhalten oder das andere Extrem zu wählen: einfach blind nur seinen primitiven Instinkten zu folgen.

Reflexion:

  1. Zeichne auf einem Blatt Papier eine Waage welche in der Mitte eine Achse hat, so wie damals auf dem Spieplatz. Notiere auf der einen Seite „Perfektion“ und auf der anderen „Chaos“ (oder wähle andere Gegensätze wie „Stärke & Mitgefühl“ oder „Loslassen & Kontrolle“). In der Mitte steht das Wort Vollständigkeit.
  2. Schreibe zu jedem Pol auf, wie er sich in deinem Leben zeigt. Wo tendierst du zu Perfektion? Wo lässt du das Unbändige in dir heraus?
  3. Markiere deinen aktuellen Standort. Wo befindest du dich jetzt und hier auf dieser Skala? Wie fühlt sich das an?
  4. Alternativ kannst du Situationen ergänzen, die es für dich noch greifbarer machen.
  5. Step back: Was siehst du jetzt?